Obwohl durch Anstrengungen der WHO die Zahl der Leprafälle weltweit dramatisch gesenkt werden konnte, zeichnet sich Indien noch immer für mehr als die Hälfte aller jährlich neuen Fälle verantwortlich. Dr. Jonathan Reisman von Calcutta Rescue USA, der in Kalkutta vier Monate mit Patienten verbrachte, die seit vielen Jahren zu sozialmedizinischen Parias geworden waren, versucht diese vielfach unverstandene Krankheit zu bekämpfen.
Am Ufer des Hugliflusses, einem Mündungsarm des Ganges im indischen Bundesstaat Westbengalen liegt in Chitpur eine ambulante Lepraklinik, betrieben von Calcutta Rescue. Dort haben über 300 Leprapatienten, wegen ihrer Krankheit aus der Gesellschaft ausgestoßen, Zuflucht gefunden.
Lepra, seit über 1000 Jahren ein Schandmal, wird in weiten Teilen der indischen Gesellschaft auch heute noch als Fluch empfunden. Ein Leprakranker wird mehr noch verabscheut als ein Dalit, ein Unberührbarer, im indischen Kastensystem.
So sitzt Abdul, jetzt 55 Jahre alt, an einem heißen Nachmittag wieder einmal in der Warteschlange, um seine chronisch offenen Fußwunden säubern und einbinden zu lassen und den Arzt zu konsultieren.
Aufgewachsen mit Eltern und Bruder in einem kleinen nahen Elendsviertel beobachtete er mit 16 Jahren helle Flecken an Armen und Brustkorb. Sie ließen sich nicht mehr verbergen und so diagnostizierte ein hinzugezogener homöopathischer Arzt sofort Lepra. Er bemerkte, dass die Wahrnehmung zarter Berührungen an diesen Stellen gemindert war, denn das Leprabakterium wächst in die Nerven, die den Tastsinn ausmachen, hinein und zerstört sie. Alle Behandlungsmethoden versagten, die Krankheit hielt sich hartnäckig und vollendete in den folgenden Jahrzehnten die Zerstörung von Abduls Körper.
Durch die daraus resultierenden Missbildungen erfuhr Abdul an sich selbst die gesellschaftliche Zurückweisung, die diese Krankheit auslöst. Und genau das soziale Stigma dieser Krankheit ist der Haupthinderungsgrund dafür, dass die Lepra in Indien ausgemerzt werden kann. Denn die Menschen bemerken schon den anfänglichen Lepra - Hautausschlag, missverstehen ihn manchmal oder schämen sich, sich öffentlich dazu zu bekennen.
Zu jener Zeit in den 1970iger Jahren war eine Therapie mit dem Antibiotikum Dapson durchaus möglich, aber Abdul hat es nicht rechtzeitig erhalten. Noch heute gibt es in Indien viele die glauben, dass Lepra ein Fluch Gottes sei und nicht geheilt werden könne.
Der Versuch seiner Eltern, eine Heirat zu arrangieren, endete in einer Katastrophe. Er fühlte zu jener Zeit, dass ihm der ganze Bereich menschlicher Beziehungen, Liebe zu erleben, wegen seiner Krankheit verschlossen bleiben würde. Er kam zu der Erkenntnis, dass er nie würde heiraten können. Das führte ihn in eine totale Isolation und er gab seine Arbeit auf. Seine physische Verunstaltung nahm schrittweise mit seiner sozialen Isolation zu.
Heute ist die Behandlung der Lepra weit fortgeschritten und durch eine hocheffiziente Therapie mittels Arzneimittelmix kann praktisch jeder geheilt werden. Seit die WHO 1995 diese Arzneimittel in ganz Indien kostenlos zur Verfügung stellte, ist die Zahl der Neuerkrankungen dramatisch gesunken.
Aber Abdul hat noch das ganze Drama offener Füße durch kleinste tägliche Verletzungen, wegen der Gefühllosigkeit oft unbemerkt, ertragen müssen. Solche Verletzungen führen zu dauerhaft offenen Wunden, Infektionen und einem Kreislauf von immer neuen Gewebeschädigungen.
Der noch immer unermüdlich für Calcutta Rescue tätige 83-jährige Gründer Dr. Jack Preger schreibt in seiner Nachricht vom 26.Februar 2014:
Mit großem Bedauern teile ich mit, dass der liebe Abdul, eine Stütze unserer Chitpur Lepraambulanz, verstorben ist und wir ihn sehr vermissen. Möge er in Frieden ruhen.“
Dr. Jonathan Reisman, übersetzt durch Burkhard Salfner