Dr. Mohibor Rahaman Gazi, besser bekannt als Dr. Bobby, war bis 2013 Geschäftsführer von Calcutta Rescue. Wegen gesundheitlicher Probleme musste er sich zurückziehen und ist nun in Teilzeit für Calcutta Rescue tätig.
Hallo Dr. Bobby. Vielen Dank, dass sie sich die Zeit für ein Interview genommen haben. Als Erstes interessiert uns natürlich, wo Sie herkommen, wo Sie studiert haben und natürlich wann und wie Sie auf Calcutta Rescue aufmerksam geworden sind.
Nun, ich bin ein Einheimischer Kalkuttas. Ich wurde hier geboren, meine Eltern ebenfalls, und ich bin in Kalkutta zur Schule gegangen. Danach habe ich hier an der Medical School Medizin studiert. Als ich meine Weiterbildung zum Kinderarzt im Krankenhaus machte, hat mir ein Kollege von Calcutta Rescue erzählt. Von diesem britischen Arzt, der kostenlos Medikamente verteilte und von seiner Ambulanz in Middleton Row. Ich war ziemlich erstaunt und wollte diese Person sehen und treffen.
Wann war das?
Im März oder April 1991. Ich habe mir einen Tag freigenommen um die Ambulanz in Middleton Row zu sehen. Überraschenderweise gab es diese Klinik schon ziemlich lange und ich hatte nie davon gehört, was sehr schade war. Sie war auf dem Gehweg, genau vor der St. Thomas Kirche. Ich sah sehr viele Patienten und eine ganze Menge Ärzte, die sie auf dem Gehweg behandelt haben. Einige saßen auf Keksdosen, andere lagen einfach auf dem Boden. Und da war da dies Abdeckplane unter der Volontäre Wunden versorgten und Verbände anlegten. Dann erblickte ich Dr. Jack, der auf einer Keksdose saß. Nachdem ich mir die Klinik angeschaut hatte ging ich hinüber zu Jack, stellte mich vor. Wir unterhielten uns und er erzählte mir, dass er eine freie Stelle in der Ambulanz in Nimtala Ghat hätte und dass ich es mir anschauen könnte, wenn ich Interesse hätte. Zufälligerweise fuhr gerade ein Jeep nach Nimtala, mit dem ich mitgefahren bin. Das war eine riesige Ambulanz, mit 7 oder 8 Ärzten und mindestens 300 Patienten. Ich traf einige der Ärzte, redete mit ihnen über die Arbeit, hab mir die Medikamentenabteilung angesehen und so weiter. Es gefiel mir, also habe ich Jacks Angebot angenommen und habe am 16. April 1991 angefangen für Calcutta Rescue zu arbeiten. Damals war ich ungefähr 30.
Seitdem haben Sie immer für Calcutta Rescue gearbeitet?
Ja. Die Arbeit gefiel mir. Noch 1991 mussten wir wegen politischer Probleme Nimtala Ghat verlassen. Wir sind nach Kashipur gezogen. Von da aus haben wir Talapark eröffnet. Langsam wurde ich in die Verwaltung der Ambulanzen einbezogen, zuerst als leitender Arzt, dann als medizinischer Koordinator usw. Ich habe mich sehr dafür interessiert.
Aber Sie haben auch eine eigene Praxis?
Genau. Diese habe ich etwa zur gleichen Zeit eröffnet und sie auch weiterhin abends betrieben. Die Vormittage waren immer für Calcutta Rescue, bis ca. 14, 15 Uhr waren wir mit der Arbeit fertig und konnten nach Hause gehen. Nach einer Erholungspause konnte ich weitermachen.
Haben Sie Ihre Praxis immer noch?
Ja, ich betreibe Sie nach wie vor jeden Abend.
Wie hat sich Calcutta Rescue seit 1991 entwickelt?
Das war eine Teamleistung. Uns war immer klar, dass wir für eine Wohltätigkeitsorganisation arbeiteten und wir wollten immer das Beste für die Patienten und die Entwicklung der Organisation geben. Wir hatten alle das gleiche Ziel: den Armen zu helfen. Wenn alle das gleiche Ziel verfolgen ist es wirklich einfach. Aus den Keksdosen wurden Stühle, aus den Stühlen gepolsterte Stühle (lacht). Natürlich haben wir das Meiste unseren Fördervereinen zu verdanken, die uns mit Spenden unterstützen. Dadurch konnten wir weitermachen, das Angebot vergrößern und verbessern. Denn um irgendwas zu tun braucht man Geld, man braucht jeden Tag mehr Geld.
Erinnern Sie sich noch an ein besonderes Erlebnis mit Calcutta Rescue?
Ein paar Jahre nachdem wir unsere Ambulanz in Kashipur eröffnet hatten, gab es Probleme. Das Innenministerium hat unsere Bankkonten eingefroren. Es wurde schwierig die Arbeit in den Ambulanzen und Schulen fortzuführen. Wir sind vor Gericht gezogen, aber es dauert bis ein Urteil gefällt wird. Diese Zeit war wirklich hart. Monatelang bekamen wir keine Gehälter, so dass wir letzten Endes auf die Straße gegangen sind um Geld zu sammeln. Das war eine schwierige Zeit.
Später hatten wir in Kashipur Probleme mit den Politikern. Zu der Zeit war ich schon in der Verwaltung tätig. Wir mussten unsere Ambulanz schließen, weil die Lokalpolitikerin der Meinung war, dass es wegen unserer Ambulanz zu einem erhöhten Krankheitsaufkommen in der Gegend kam. Wir konnten sie nicht überzeugen und mussten schließen. Unter dem Vorwand, dass ich mit ihr reden könnte, wurde ich von Anwohnern Kashipurs in ein nahegelegenes Lagerhaus gebracht. Ich wusste nicht was los war, alles war abgesperrt, wir saßen stundenlang in dem dunklen Lagerhaus, ich wusste nicht, ob ich entführt war und was los war. Damals gab es keine Handys, ich konnte also niemandem Bescheid sagen, wo ich war. Aber nach einigen Stunden haben sie mich wieder gehen gelassen. Das war auch ein außergewöhnliches Erlebnis.
Also ziemlich schwierige Zeiten.
Ja, es waren schwierige Zeiten, aber wir haben sie überwunden und ich habe zu keinem Zeitpunkt bereut für Calcutta Rescue zu arbeiten. Ich wusste, dass ich für eine gute Sache arbeite.
Wie hat sich die indische Gesellschaft über die letzten Jahre verändert? Wie hat sich Kalkutta verändert?
Das Bewusstsein hat sich verändert, sowohl das der Regierung als auch das im privaten Bereich. Das Gesundheitssystem der Regierung, das vor 20 Jahren noch eher armselig war, ist heute viel besser. Die grundlegendsten Medikamente waren nicht verfügbar, zum Beispiel für Tuberkulose oder Krebs. Heute bekommt man bekommt viele Medikamente im Krankenhaus. Auch im schulischen Bereich gab es viele Bemühungen von Seiten der Regierung. Heute gehen mehr Kinder zur Schule. Vor 20 Jahren hat man kaum Eltern auf den Straßen gesehen, die ihre Kinder zur Schule bringen. Sogar in den Slums ist den Eltern heute bewusst, dass sie die Ausbildung ihrer Kinder wichtig ist. Die schulischen und medizinischen Einrichtungen sind viel besser als damals: kostenloser Unterricht, kostenloses Essen usw. Gut, die Qualität ist manchmal noch nicht die beste, aber immerhin passiert etwas.
Vor 20 Jahren mussten sehr viele Menschen kämpfen um sich zwei Mahlzeiten am Tag leisten zu können. Heute müssen nicht mehr so viele Menschen darum kämpfen. Die meisten kommen über die Runden. Natürlich gibt es noch viele Arme, aber wenn man das Bevölkerungswachstum bedenkt sind es zwar absolut gesehen genauso viele, aber die Prozentzahlen sind gesunken. Es gibt heute viele Leute, die besser dran sind als es noch ihre Eltern waren.
Sie haben schon erwähnt, dass die Regierung immer mehr Verpflichtungen übernimmt, im schulischen wie auch im medizinischen Bereich. Denken Sie, dass irgendwann NGOs (Nichtregierungsorganisationen) nicht mehr gebraucht werden?
Das würde ich so nicht sagen. Wie Calcutta Rescue versuchen die meisten NGOs Lücken im System zu füllen, egal ob im medizinischen oder im Schulsystem. Vor 20 Jahren, als ich als Doktor gearbeitet habe, musste ich für internationale Treffen an die 500 Patientenkarten von Tuberkulosepatienten raussuchen. Heute sind es maximal fünf bis zehn Tuberkulosepatienten, die ihre gesamte Medikation von Calcutta Rescue bekommen, weil die meisten sie von der Regierung bekommen. Das ist der Unterschied. Heute versorgt Calcutta Rescue Patienten mit MDR-TB (multiresistente Tuberkulose) und XDR-TB (extremresistente Tuberkulose). Das DOTS Programm (directly observed treatment, short-course; hierbei wird die Einnahme der Medikamente von medizinischem Personal überwacht, Anm. der Autorin) zur Behandlung der nichtresistenten Tuberkulose wird kostenlos von der Regierung angeboten. Als wir unser HIV-Programm gestartet haben, haben wir die Patienten mit allen Medikamenten versorgt, die sie brauchten, egal ob für die HIV-Infektion oder damit verbundene Infektionen. Heutzutage stellt die Regierung Medikamente der First und Second Line Behandlung zur Verfügung, Calcutta Rescue füllt die Lücken in der Versorgung bei resistenten Fällen mit Second oder Third Line Behandlung. Der Bedarf wird also immer da sein. Die Regierung stellt einige Medikamente zur Krebsbehandlung zur Verfügung, Calcutta Rescue liefert die fehlenden, die die Regierung nicht liefern kann. Medikamente für Husten, Erkältungen und Sodbrennen bekommt man heute nicht nur im Krankenhaus in Kalkutta sondern auch in Krankenhäusern in ländlichen Gegenden. Die Zahl der Patienten bei Calcutta Rescue nimmt vielleicht ab, aber die Kosten der Behandlung eines einzelnen Patienten steigen. Wenn es früher 100 Rupien gekostet hat, einen Patienten mit Medikamenten zu versorgen, sind es heute 1000 Rupien, weil die Patienten schwerwiegendere Krankheiten haben.
NGOs werden also immer gebraucht werden?
Auf alle Fälle. Sehen wir uns das Schulsystem an. Mit dem „Right to Education Act“ gibt es ein Recht auf Bildung. Die Eltern sind nicht in der Lage ihren Kindern in der Schule zu helfen. Calcutta Rescue bietet den Kindern Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfeunterricht an. Mit den Veränderungen musste sich auch Calcutta Rescue verändern um die Lücken zu füllen.
Heutzutage gibt es eine breite Mittel- und Oberschicht in Indien. Wie ist das Verantwortungsbewusstsein in diesen Schichten? Interessieren sie sich für die Armen, helfen sie ihnen?
Nun, die Inder sind bereit, etwas zu geben, allerdings nicht in dem Ausmaß wie Amerikaner oder Europäer. Außerdem tendieren wir dazu mehr religiöse Spenden zu geben. Die Tempel sind sehr reich und wohlhabend, weil wir glauben, dass wir uns so von den Sünden freikaufen könnten. Das ist bei allen Religionen das Gleiche. Aber das wohltätige Denken, mit Spenden den Armen zu helfen, ist noch nicht entwickelt.
In den jüngeren Generationen hat es allerdings einen Wandel gegeben. Wir bekommen viel mehr Anfragen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Kalkutta, die helfen möchten. Nicht zwangsläufig mit Geld, sondern auf jede mögliche Art. Das ist ein sehr gutes Zeichen. Heute helfen sie den Kindern mit Nachhilfe oder machen ihnen eine Freude, indem sie mit ihnen ins Kino gehen, aber in einigen Jahren werden diese Menschen mehr Geld verdienen und dann können sie auch Geld spenden. Ein gutes Beispiel ist die Gyanada Foundation in Singapur. Der Gründer war ein Volontär aus Kalkutta. Anfangs hat er die Kinder in Englisch unterrichtet. Jetzt arbeitet er in Singapur und er wollte etwas tun. Also hat er die Organisation gegründet. Sie sammeln Spenden für unsere Schulen.
Welche Herausforderungen steht Calcutta Rescue gegenüber und welche werden künftig auf NGOs zukommen?
Natürlich ist die größte Herausforderung das Geld. Für jede Arbeit braucht man Geld. Wir müssen die Menschen in Kalkutta für die Arbeit von Calcutta Rescue sensibilisieren und so Geld sammeln. Natürlich werden wir nie an die Spenden herankommen, die wir von den Fördervereinen erhalten, aber wir müssen es zumindest probieren. Das ist eine große Herausforderung. Heute zögern die Leute, wenn ich Geld für Calcutta Rescue sammeln möchte, da sie nichts über die Organisation wissen. Aber wenn sie schon einmal davon gehört haben, ist die Bereitschaft zu spenden größer.
Zum Glück sind wir heute nicht mehr von der Regierung bedroht. Noch vor 20 Jahren waren sie und vor allem lokale Politiker den NGOs gegenüber misstrauisch. Sie dachten NGOs hätten eine Mission, dass sie die Menschen zum Christentum bekehren oder Kinder- oder Frauenhandel betreiben wollten. Aber später haben sie herausgefunden, dass die meisten NGOs gute Arbeit leisten und sie haben realisiert, dass die Regierung mit den NGOs zusammenarbeiten muss um etwas zu erreichen. Viele Regierungsprogramme laufen heutzutage in Zusammenarbeit mit NGOs. Deswegen sind wir heutzutage nicht mehr von der Regierung bedroht. Das Tuberkulose-Programm würde ohne NGOs nicht funktionieren, genauso wie das Recht auf Bildung. Der Regierung fehlen die Infrastruktur und die Angestellten zur Umsetzung.
Was sind Ihre Ziele?
Der Entwicklungsprozess, den wir begonnen haben, soll weitergehen. Vor einigen Jahren waren wir die beste der mittelgroßen NGOs in Indien. Damit müssen wir weitermachen. Ich möchte mit meiner Erfahrung dazu beitragen und meine Kollegen unterstützen.
Sie wollen also bei Calcutta Rescue bleiben solange es nötig ist?
Nun, solange mich Calcutta Rescue und das Management braucht und ich mit meiner Erfahrung helfen kann. Und natürlich solange es mir meine Gesundheit erlaubt. Nach meinem Herzinfarkt im November 2012 musste ich meine Arbeit zurückfahren, so dass ich momentan an drei Tage die Woche halbtags für Calcutta Rescue arbeite. Ich möchte helfen solange es geht. Der Stress, der mit der Position des Geschäftsführers verbunden war, hat meine Gesundheit zu sehr belastet. Das war einer der Faktoren, ich möchte nicht sagen, der einzige. Nun, da dieser Stress weg ist, fühle ich mich wohler. Mit meiner Privatpraxis war es immer ein langer Tag für mich, aber ich habe es immer gern gemacht. Nach einem harten Tag für Calcutta Rescue, der ganzen Verwaltungsarbeit, konnte ich abends in meiner Praxis abschalten. Natürlich war meine Praxis auch zusätzliches Einkommen für mich, aber ich mache die Arbeit sehr gern und abends war ich ein entspannter Mann.
Was wünschen Sie Calcutta Rescue?
Natürlich nur das Beste! Calcutta Rescue wurde ein Teil nicht nur von mir, auch meiner Familie. Auch meine Frau und mein Sohn fühlen sich als Teil von Calcutta Rescue. Ich war oft so sehr mit der Arbeit für Calcutta Rescue beschäftigt das meine Frau sagte, das wäre meine zweite Ehefrau.
Und was wünschen Sie sich für sich selbst?
Dass ich gesund bleibe und weiterhin für Calcutta Rescue arbeiten kann.
von Maria Baumann aus Regensburg