Saira Stephanos ist seit Mai 2013 für Calcutta Rescue tätig. Sie begann als Volontärin und arbeitet nun als Geschäftsführerin.
Hallo Frau Stephanos. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für ein Interview genommen haben. Als erstes interessiert uns natürlich, wo Sie herkommen, aufgewachsen sind und wann und wie Sie auf Calcutta Rescue aufmerksam geworden sind.
Ich bin in Kalkutta geboren und zur Schule gegangen. Danach habe ich meinen Master in Business Administration an der Universität in Chennai gemacht. Nachdem ich einige Jahre im Werbesektor gearbeitet hatte war ich 1997 für ein Jahr in Buffalo (USA). 1998 bin ich nach Kalkutta zurückgekommen. Damals arbeitete ich für die Times of India Group, die wichtigste englischsprachige Zeitung Indiens. Im Oktober 2012 begann ich als Volontär mit Sister Cyril zu arbeiten. Durch sie erfuhr ich von Calcutta Rescue.
Warum wollten Sie als Volontär arbeiten?
Im Berufsleben gab es für mich keine Herausforderungen mehr, ich hatte alles erreicht, was ich wollte, und ich fühlte, dass es Zeit war, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Ich hatte drei Jahre lang unterrichtet, was mir großen Spaß gemacht hat. Außerdem bin ich gerne mit Kindern zusammen. Ich hörte von Calcutta Rescues Schul- und Bildungsprogramm und wollte mich beteiligen. Aber nachdem Dr. Bobby aus gesundheitlichen Gründen weniger arbeiten konnte, musste ich mehr und mehr Arbeiten in der Verwaltung übernehmen.
Sie wollten also mehr in den Projekten mitarbeiten als administrative Arbeit zu machen?
Ja, das dachte ich. Aber jetzt bin ich Geschäftsführerin. Aber da es in den Projekten auch schon genug gute Leute gibt, will ich niemandem auf die Füße treten und ich bin glücklich wo ich bin. Aber ich bekam die Möglichkeit, den Kindern beim Englischlernen zu helfen, da es niemanden gab, der mit den Kindern Englisch sprechen konnte. Zu der Zeit war Dr. Bobby noch da und so begann ich die Kinder zu unterrichten. Da es mir Spaß macht, mache ich es immer noch, ich möchte nicht mehr damit aufhören. Es gibt mir einen besseren Einblick was in den Schulen passiert. Was die Kinder brauchen, wie sie denken usw. Wir wollen den Kindern auch eine Berufsausbildung bieten.
Für die medizinischen Projekte ist Dr. Ghosh da, ich habe kein medizinisches Wissen. Aber ich kümmere mich um die anderen Projekte, gehe in die Apotheke und versuche alle Projekte zu sehen. Und kümmere mich darum, Spender zu werben. Durch meine Berufserfahrung weiß ich, wie die Menschen in der Konzernwelt denken.
Sie haben mit Volontärsarbeit angefangen, weil sie der Gesellschaft etwas zurückgeben wollten. Glauben Sie, dass die Mittel- und Oberschicht in Indien auch dieses Verantwortungsbewusstsein hat?
Ja, das kommt langsam. Früher gab es das nicht, aber heute kommen viele junge Menschen zu uns und wollen helfen. Vor kurzem haben junge Studenten einem Volontär dabei geholfen, unsere Schule zu streichen und zu verschönern. Sie haben so etwas nie zuvor in ihrem Leben gemacht, aber es hat ihnen sehr gefallen.
Noch wichtiger ist, dass es nun ein Gesetz gibt, dass Unternehmen einen bestimmten Prozentsatz ihres Profites an CSR („corporate social response“ = gemeinnützige Zwecke) Aktivitäten spenden müssen. Das bedeutet, sie müssen seit April 2014 Programme für die Benachteiligten unterstützen.
Was hat sich in den letzten 10, 20 Jahren in Indien verändert?
Die Menschen haben genug von Korruption. Es gibt eine neue Partei: die Common People Party (sinngemäß: Volkspartei). Seit dem Right to Information Act (Recht auf Information) hat jeder das Recht, zu erfragen, wofür die Regierung Geld ausgibt. Den Menschen wird mehr und mehr bewusst, dass man etwas gegen Korruption tun muss. Die Wirtschaft wächst, die Menschen verdienen mehr und geben mehr aus. Auch die unteren Schichten erkennen, dass Bildung das Einzige ist, was ihre Kinder im Leben weiterbringt. Es passiert viel, es könnte zwar schneller gehen, aber immerhin passiert es. Den jungen Leuten wird bewusst, dass sie aktiv werden müssen, um etwas zu ändern.
Sie wohnten ein Jahr in Amerika. Hat sich Ihre Sicht auf Indien geändert, nachdem sie zurückgekommen sind?
Nicht wirklich. Klar ist es dort anders, aber… mir ist aufgefallen, dass sich Kalkutta sehr langsam verändert. Ich habe immer hier gelebt. Der Rest von Indien hat sich verändert, aber Kalkutta nicht. In anderen Teilen Indiens gibt es mehr Fortschritt. In Südindien ist der generelle Lebensstandard höher, es gibt weniger Analphabeten, die Hygienestandards sind besser. In Kalkutta regieren seit 40 Jahren die Kommunisten, es gibt wenig industriellen Fortschritt und zu wenig Arbeit. Die Kommunisten haben sehr lange keinen Englischunterricht erlaubt, viele Studierte können kein Englisch. In Indien, wo jeder Staat seine eigene Sprache hat, muss man Englisch können, mit Bengalisch kommt man nicht weit. Und in Westbengalen gibt es nicht genügend Jobs. Eine schlimme Situation. Mamata Banerjee (Regierungschefin von Westbengalen) gewann vor 3 Jahren die Wahl mit dem Versprechen, etwas zu verändern. Aber es hat sich nicht wirklich etwas verändert. Keine Industrialisierung, keine Jobs. Deswegen ändert sich Kalkutta nicht.
Aber es wird doch viel gebaut hier?
Ja, in Salt Lake (Stadtteil von Kalkutta) und im Süden der Stadt wird viel verändert, gebaut. Ich sage ja nicht, dass gar nichts passiert. Aber wenn man die Geschwindigkeit vergleicht, ändert sich in Kalkutta alles viel langsamer als anderswo.
Ich kam 1998 zurück, das war vor 15 Jahren. Es war ein großer Schock, nach Kalkutta zurückzukommen. Indien hat sich verändert, aber Kalkutta ist immer noch wo es war. Aber die letzten fünf, sechs Jahre hat sich etwas getan. Aber es muss noch viel mehr getan werden.
Was sind die Herausforderungen an NGOs (Nichtregierungsorganisationen)? Die Regierung übernimmt mehr und mehr Aufgaben, wie die Einführung einer Schulpflicht oder kostenlose Impfprogramme.
Ja, die Regierung macht viel. Viele Patienten, die früher zu uns kamen, müssen wir heute nicht mehr behandeln, weil sie die Medikamente von der Regierung bekommen. Es gibt auch Fair Price Shops, wo es Arzneimittel günstiger gibt. Wir behandeln Spezialfälle, die nichts von der Regierung bekommen. In den Schulen ist es das Gleiche, wenn die Regierung etwas anbietet, sollte man es nutzen. Aber wir unterstützen das, mit Nachhilfe, Zahncheckups oder Wahlunterricht. Als NGO müssen wir unser Angebot ändern. Wenn die Regierung eine Grundschule bietet, bieten wir eine Vorschule. Nun will die Regierung das auch anbieten, dann brauchen wir es nicht mehr. Es macht keinen Sinn, das Gleiche zu bieten.
Glauben Sie, dass der Tag kommen wird, an dem in Indien keine NGOs mehr gebraucht werden?
Ja, vielleicht in 20 oder 50 Jahren. Die Regierung merkt, dass sie alleine nicht so effektiv ist wie der private Sektor. So kommt es zu „public private partnerships“, d.h. die Regierung versucht, mit privaten Anbietern zusammenzuarbeiten. Zum Beispiel bieten sie das Land, eine NGO übernimmt den Rest. Es ist viel effizienter, wenn der private Sektor die Umsetzung übernimmt. Das gleiche ist bei den Airlines passiert. Früher gab es nur Air India – dann kamen mehr und mehr private Anbieter und nun sind Flugtickets sehr günstig. Oder bei den Telefonanbietern. Früher musste man Jahre warten um ein Telefon zu bekommen. Heute geht das viel schneller. Der private Sektor ist viel effizienter als die Regierung. So haben auch NGOs ihre Rolle. Ich glaube nicht, dass NGOs komplett verschwinden werden. Es leben immer noch viele Menschen unter der Armutsgrenze. Trotz des Fortschritts gibt es immer noch Menschen, die hungern. Die Armutsgrenze ist 32 Rupien (ca. 40 Cent) pro Tag. Nur wer weniger als 32 Rupien am Tag verdient ist arm! Was bekommt man für 32 Rupien? Nichts! Die Definition von Armut ist sehr schwierig. Studenten haben versucht von 32 Rupien zu leben. Es ist unmöglich. Man ist nahe am Verhungern. Die Zahl der Armen ist immer noch sehr groß. NGOs werden nicht verschwinden.
Versucht die Regierung, die Leute denken zu lassen, dass es weniger Arme gäbe, indem sie die Armutsgrenze senken?
Nein, sie haben sie nicht verringert, aber so wurde sie einfach definiert. Die Regierung weiß, dass viel getan werden muss und sie tun etwas. Es könnte schneller gehen, aber auch hier ist die Korruption ein großes Problem. Es gibt so viele Löcher im System.
Letztes Jahr gab es extreme Preisanstiege bei Nahrungsmitteln. Durch das „rural employment garantee scheme“ wurde den Menschen, die oft als Tagelöhnern arbeiten, 100 Tage Arbeit pro Jahr garantiert. Dadurch sind die Einkommen in den ländlichen Gegenden gestiegen. Weil mehr Geld da war, erhöhte sich die Nachfrage und damit auch die Preise. Als erstes stiegen die Preise für Linsen, dem Hauptnahrungsmittel, da sie viele Proteine enthalten. Alles wurde teuerer. Zwiebeln, normalerweise 10 Rupien pro Kilo, kosteten 60 Rupien pro Kilo. Es gibt viele Statistiken, die zeigen, dass alles besser wird: Kindersterblichkeit, Elektrizität, weniger Menschen unter der Armutsgrenze. Der Trend ist da, aber die Zahlen sind immer noch groß.
Welche Pläne haben Sie für Calcutta Rescue?
Wir müssen mit unserer Arbeit, den Armen zu helfen, weitermachen. Ein großes Problem ist die Infrastruktur. Wir sind über die ganze Stadt verteilt, und keines der Gebäude gehört Calcutta Rescue. Was machen wir, wenn wir eines abgeben müssen? Die Gebäude verbessern sich – Talapark hat ein vernünftiges Dach bekommen, früher war es nur Bambus, und in Chitpur steht nun zumindest ein Wellblechgebäude. Wir wollen durch Verbesserung der Infrastruktur auch unser Angebot verbessern.
Was ist im Gebäude der Belgachia Ambulanz?
Dort findet Nähunterricht statt. Vor kurzem haben wir ein Malprogramm für behinderte Schüler gestartet. Claudia, eine Volontärin aus der Schweiz, hat dies begonnen. Man braucht immer mindestens 10 Kinder, damit es sich lohnt. Wenn es weniger sind, ist es günstiger, die Kinder in die Institutionen zu schicken, wo sie etwas lernen können.
Welches Projekt ist Ihnen am wichtigsten?
Nun, ich engagiere mich am liebsten in den Schulen. Aber alle Projekte sind wichtig. Gesundheit ist bei uns das Bedeutendste. Schule kann das Leben verändern, das medizinische Programm rettet das Leben. Aber es hilft nichts, wenn die Leute danach das gleiche miserable Leben führen wie vorher.
von Maria Baumann aus Regensburg