From East Germany to West Bengal
Ein Bericht von unserem Volontär Christian Pahrmann
Auf Calutta Rescue Deutschland e.V. stieß ich 2018 durch einen Bekannten einer Bekannten, der ein paar Jahre zuvor als Arzt in Kalkutta war. Ich suchte bereits einige Zeit nach einer Möglichkeit, als Sozialarbeiter nach Kalkutta zurück zu gehen. Umso mehr freute ich mich von Dr. Jack erfahren zu haben.
Da ich mit meiner Faszination für Kalkutta schwer hinterm Berg halten kann, mögen Sie es mir, liebe Leserinnen und Leser, nachsehen, wenn ich hin und wieder ins Schwärmen gerate, Professionelles mit Privatem vermische, aber Kalkutta ist einfach voller Geschichten in denen man sich unversehens selbst befindet.
Wenn auch der Anfang etwas holprig war, fand ich mich, dank meiner Koordinatorin Alexandra und den anderen Freiwilligen, recht schnell zurecht. Aber was tun, als erster Social Work Volunteer? Die Stelle sollte neu besetzt werden, die aktuelle Sozialarbeiterin war eigentlich schon weg, da lohnte die Mühe, sie wegen ein paar Wochen noch einzuarbeiten, kaum. Also fuhr ich die erste Zeit fast jeden Tag mit den mobilen Ambulanzen in die Slums, machte mich mit dem öffentlichen Raum vertraut, mit dem Leben in den Slums und konnte mir Gedanken machen, wo ich helfen konnte. Die mobilen Ambulanzen schienen mir in ihrer aufsuchenden Arbeit jedoch derart gut organisiert, dass es für mich nichts weiter zu tun gab, als mich sozusagen als Lehrling an Subhashis Seite zu bewegen, der schon viele Jahre mit Calcutta Rescue in den Slums unterwegs ist. Nichtsdestotrotz erleichterte es mir das Verständnis der räumlichen und sozialen Umstände. Mir war es wichtig, meine eurozentrierte Fachlichkeit mit den Gegebenheiten in Kalkutta zu vergleichen und mich vor allem mit der indischen Fachliteratur zu den Themen School Social Work, Social Space, Slum Outreach, Community Organization & International Social Work vertraut zu machen. Also las ich alles, was ich in die Hände bekommen konnte und versuchte Fachliteratur zu finden.
It is only to recall, share and reflect upon a microcosm that came into being by a collision of cultures; a world that often took the mundane, the ordinary to the extraordinary and created lasting impressions. A microcosm called Kalkatta.” (Supriya Newar: Kalkatta Chronicals)
Nach ca. einem Monat fand sich Suchandra Chatterjee, um die Stelle als Schulsozialarbeiterin anzutreten. Da ich bereits Erfahrung beim Aufbau eines Streetworkprojekts bei der Diakonie Leipzig hatte, konnte ich mich endlich an die Arbeit machen. ABER: nicht so schnell. Was, wenn meine Vorstellungen nicht passen? Wie verbindet sich mein Verständnis von Sozialer Arbeit mit Suchandras Erfahrungen und den gesellschaftlichen Umständen in Indien? Wie schaffe ich ein Vertrauensverhältnis mit einer positiven Kritik- und Fehlerkultur?
Zunächst schaute ich mir die Schulen genauer an, sprach mit den anderen Freiwilligen, versuchte herauszubekommen welche Informationen für die Soziale Arbeit relevant sein können. Eine Statistik der Fälle bestand nicht, ebensowenig nachvollziehbare Fallakten, wann welche*r Schüler*in mit welchen Problemen in Beratung war, zu wem sie vermittelt wurden und was z.B. der „medical room“ gemacht hatte. Kurz und gut, ich erstellte zusammen mit Suchandra „referral & feedback forms“ zu den Ärzten, zur Berufsberatung usw. Mir war die Zusammenarbeit und der Informationsaustausch wichtig und vor allem, dass nichts von Freiwilligen abhängig wird, sondern sich durch meine Vorschläge eigene Strukturen entwickeln.
Suchandra und ich mussten uns zum Ende allerdings von unserem Freitagsritual verabschieden; Unsere Reflektionsgespräche – was war los? Gab es schwierige Fälle oder Situationen? Wie fühle ich mich am Wochenende? Aber alles hat ein Ende…
So möchte ich auch hier zum Ende kommen und noch auf die Statistik, die wir zusammen mit Suchandra, Ananya und Jaydeep erstellt haben, hinweisen. Ich denke, wir haben mit KoBoCollect eine praktikable, kostenlose und leicht zu evaluierende Möglichkeit gefunden, Suchandras, Arbeit statistisch darzustellen. Ob sich die Pflege der Statistik (die hier dargestellten Daten stammen aus dem Zeitraum April – Oktober 2019) auch in Zukunft durchsetzt, erwarte auch ich mit Spannung.
Ich bin weiterhin mit Suchandra in Kontakt, verfolge die Entwicklung Ihrer Arbeit und freue mich trotz der andauernden Pandemie über die positive Entwicklung des Projektes.
Mit einem weinenden und einem lachende Auge – Léa schaut nach Kalkutta zurück
Ich schaue mit einem weinenden und einem lachenden Auge auf meine Zeit in Kalkutta zurück. Mein Freiwilligen-Einsatz als Schulsozialarbeiterin bei Calcutta Rescue wurde wegen des Ausbruchs des Covid-19 überstürzt ein halbes Jahr eher beendet. Die Umstände rund um Covid-19 erlaubten uns Freiwilligen nicht mehr, in Indien zu bleiben.
Die letzten Wochen in Kalkutta waren geprägt von Ungewissheit und Unruhe. Niemand wusste wirklich, wie sich diese Krise entwickeln würde. Als die Entscheidung fiel, dass wir alle nach Hause reisen müssen, waren wir einerseits froh um die Klarheit, aber anderseits natürlich enttäuscht.
Ich hatte Kalkutta schon längst als weiteres Zuhause in mein Herz geschlossen. Das tägliche Pendeln mit der Metro zwischen dem südlichen Teil der Stadt, wo meine kleine Wohnung lag, und dem nördlichen Teil Kalkuttas, wo die Projekte von Calcutta Rescue lokalisiert sind, wurde für mich ein Ritual.
Grosse Sorgen um alle Kinder und Jugendliche, welche wegen des Lockdowns plötzlich mit ihren grossen Familien zusammengepfercht auf kleinstem Raum verweilen mussten, machte sich in mir breit. Die weit propagierte Schutzmassnahme „Social-Distancing“ kam mir in diesem Kontext lächerlich vor. Auch kreisten meine Gedanken um die verschiedenen Projekte, welche ich schon initiiert, begleitet oder erst geplant hatte. Durch Covid-19 kam alles zum Stillstand.
Als ich ein halbes Jahr zuvor mit meinem Rucksack aus dem Zug ausstieg und ich in der überfüllten Halle des riesigen Bahnhofs Howrah stand, sprudelte das Glücksgefühl aus mir heraus, ich fühlte mich am richtigen Ort zu richtigen Zeit. Nichts wies auf eine aufkommende Krise hin. Kalkutta nannte ich damals schon als meinen Glücksort, da ich jährlich meine lieben Bekannten dort besuchte. Die Stadt symbolisiert für mich den Inbegriff von Leben mit allen dazugehörenden Höhen und Tiefen.
Ich plante, als Schulsozialarbeiterin bei Calcutta Rescue für ein Jahr einen Freiwilligen-Einsatz zu leisten. Und war total motiviert.
Ich unterstützte die einheimische Sozialarbeiterin und Psychologin Suchandra bei ihrer Arbeit in den zwei Schulen von Calcutta Rescue. Jeweils am Donnerstagmorgen trafen wir uns in einer der beiden Schulen, um die nächste Schulwoche zu planen. Da ich in der Schweiz über einen Pädagogikabschluss verfüge, übernahm ich die Planung der Aufklärungs-Unterrichtsreihen. Wir wollten durch altersgerechte Workshops so viele Kinder und Jugendliche erreichen wie möglich. Ich schrieb verschiedene Unterrichtsreihen zu den Themen: Safe and unsafe Touch, häusliche Gewalt, psychische und physische Gesundheit und Verhütungsmittel. Mir war es wichtig, dass die Studenten durch vielfältige Methoden, wie beispielsweise Rollenspiele, Interviews und soziales Lernen, motiviert lernen können.
Leider konnte ich nur die Lektionen mit den ältesten Studenten selbst durchführen, weil die jüngeren Kinder noch nicht genügend Englisch sprachen. Am Anfang brauchte es von allen Seiten etwas Mut über die sensiblen und persönlichen Themen zu sprechen. Ich merkte schnell, dass in der indischen Kultur weniger offen über die Pubertät und die verbundenen körperlichen Veränderungen gesprochen wird. Überrascht stellte ich auch fest, dass die wenigsten Studenten und Studentinnen die Namen und Funktionen ihrer Geschlechtsorgane kannten. Suchandra konnte zum Glück hier die Brücke schlagen und die Jugendlichen vorsichtig und doch bestimmt darüber aufklären.
Neben dem Schreiben der Unterrichtseinheiten und deren Durchführung, plante ich mit den Schulverantwortlichen die ersten Elternräte, um ein weiteres partizipatives Gefäss in der Organisation zu integrieren. Leider konnte ich an den ersten Ratssitzungen nicht teilnehmen, weil ich in dieser Zeit schon wieder in Zürich war. Suchandra berichtete mir, dass die ausgewählten Elterndelegierten positiv auf ihre neue Rolle reagierten. Ich bin neugierig, wie sich dieses Projekt nun ohne mich weiterentwickelt.
Während meines Einsatzes hatte ich das Glück, als Repräsentantin von Calcutta Rescue an zwei Konferenzen teilzunehmen. Dort wurde über rechtliche und praktische Schritte für die Einhaltung der Rechte der Mädchen diskutiert. Ich lernte viel über das indische Sozialsystem und die rechtlichen Grundlagen.
Im Rahmen des „Elimination of Violence against Women – Day“ (der Tag zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen) organisierten Suchandra und ich in der Talapark Ambulanz eine Veranstaltung. Wir luden Mütter, Mitarbeiterinnen und Patientinnen ein, um an diesem besonderen Tag verschiedene Vorträge zum Thema „Häusliche Gewalt“ zu hören und dann gemeinsam mit viel Chai-Tee eine schöne Zeit zu verbringen.
Dieses Event habe ich als sehr berührend in Erinnerung.
Wenn man sich für einen Einsatz bei Calcutta Rescue entscheidet, muss man sich bewusst sein, dass man in ein schon „gut“ funktionierendes System eintritt. Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten, geeignete Projekte zu finden. Nach mehrwöchigem Beobachten, kristallisierten sich mögliche Themen heraus. Eine grosse Portion an Selbständigkeit, Selbstinitiative und auch Selbstvertrauen sind gefragt, denn die lokalen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind zwar sehr hilfsbereit, aber man muss sich selbst gut zu helfen wissen.
Neben meiner Arbeit hatte ich an den Wochenenden und in den Ferien genügend Gelegenheiten, um die Gegend rund um Kalkutta zu entdecken. Unsere Freiwilligen-Gruppe war sehr aktiv und unternehmungslustig. Der Austausch mit ihnen half mir immer wieder meine Arbeit und auch meine Erfahrungen zu reflektieren. Ich hatte das Glück, sowohl mit Expats, wie auch mit Einheimischen, Freundschaften zu schließen. Mit vielen von ihnen bin ich noch im Kontakt.
Nun bin ich wieder Zuhause in Zürich, die Bilder von Kalkutta in meinem Kopf verblassen schon ein wenig. Vermissen tue ich die Stadt immer noch wie am ersten Tag meiner Rückkehr.